ISABELLA TIL – EXPEDITION AN DIE RÄNDER DER MALEREI

Isabella Til betreibt Malerei als Experimentierfeld. An den Rändern des klassischen Malereibegriffs beginnt ihr Spiel mit der Verschmelzung von digitalen und malerischen Mitteln. Aus der Synthese entstehen Bilder, die tradierte Fragestellungen umformulieren. So bilden die geometrischen Formen in ihren Arbeiten harmonische Gefüge, die tief ineinander verschachtelt sind, ohne dabei im traditionellen Sinne einen illusionistischen Tiefenraum zu erzeugen. Stattdessen lagern bis zu fünfzig Ebenen übereinander. Mal transluzent und mal opak, erzeugen sie ein enigmatisches Raumgefüge und spielen mit dem einfallenden Licht. Die sowohl malerisch als Aquarell oder Zeichnung erstellten, als auch aus eigenen Archiven reproduzierten oder digital weiter entwickelten Bildelemente, verweben sich am Computer zu neuartigen komplexen Bildräumen. Diese erzeugen – genauso wie die mit Acrylfarbe übermalten Bildzonen – Lichtreflektionen, welche einen Zustand zwischen digital und analog erschaffen. In diesem Zwischenraum lösen sich Grenzziehungen auf, nur schwer lässt sich nachvollziehen, ob die einzelnen Schichten manuellen oder technischen Ursprungs sind.

Licht ist ein wesentlicher Aspekt der Arbeiten, die allesamt Unikate sind. Doch statt die seit dem Mittelalter virulente Frage danach zu stellen, wie das Licht ins Bild kommt, geht es in Isabella Tils Kunst auch darum, wie die am Bildschirm aus Licht entstehenden Bilder in die analoge Realität hinein geboren werden können, welche Transformationen sie dabei erfahren und wie sich die Präsenz im Realraum durch Übermalungen modifizieren lässt. Bereits seit den 80er Jahren sind der Computer und die Fotografie für die Künstlerin äquivalent zur Staffelei geworden. Der Anfang ihrer heutigen Arbeitsweise liegt in einer Serie eigener Fotogramme aus den Jahren 1983-85 begründet, welche die Künstlerin für sich wiederentdeckte. Fasziniert von diesen Collagen und den feinen Übergängen der grauen Tonalitäten, begann sie diese in den Fokus ihrer Arbeit zu stellen und ihnen mittels schwarz-weißer Aquarelle und Experimente am Rechner in verschiedenen Variationen nachzuspüren.

Die Serie Area aus dem Jahr 2017 ist Ausdruck dieser interdisziplinären Feldforschung. In subtil nuancierten Fragmenten fügen sich die Arbeiten – trotz ihrer reduzierten Unfarbigkeit – zu einer poetischen Sequenz von Farbakkorden jenseits von einfachem Schwarz und Weiß zusammen. Die Wahrnehmung, so zeigt sich hier, wird maßgeblich von unseren Beobachtungen, Seherfahrungen und Erwartungen geprägt.

Dieser Erwartungshorizont wird auch in der nachfolgenden Werkreihe Fluidum aus dem Jahr 2018 geprüft. Denn die scheinbar aquarellierten, nunmehr pastelligen Farbflächen, sind wiederum teils digital produziert und schließlich partiell übermalt. Sie generieren einen Bildraum, der mit fließenden Elementen, transparenten Schichtungen und Lasuren das Auge in ein Vexierspiel verwickelt, indem die immateriell-digitalen und die materiell-haptischen Elemente überraschende Farb- und Formereignissen generieren. Eine weitere, visuelle wie auch inhaltliche Ebene, eröffnet sich in der Serie McLuhan aus dem Jahr 2019. Zwischen die abstrakten Schichten schieben sich figurative Momente: ein Stück eines klassizistischen Textblattes, Fragmente eines Geldscheins, die Makroaufnahme eines Kabelgewirrs oder eines Tablets.

Alle Werkreihen verbindet die Beeinflussung durch den Konstruktivismus, die sich in den geometrisch-kristallinen Konstruktionen zeigt. Die strengen klaren Formen sind jedoch gepaart mit freien gestischen Momenten. Klar geordnete Strukturen treffen auf freie wogende Linien. Ebenfalls immer wiederkehrend sind Konstruktionen, die an Treppen erinnern – paradox, da Treppen normalerweise ein Weiterkommen suggerieren, in christlichen Bildern gar ein Ankommen. Besonders in den Heiligenbildern der italienischen Renaissance ist der Betrachterstandpunkt oftmals unterhalb einiger Stufen angesiedelt und am Ende der Treppe warten Maria und das Kind. In Isabella Tils Bildräumen ist dagegen keine „Erlösung“ in Sicht – die dynamischen Kompositionen bilden eigene, den Betrachter ins Bild ziehende Kadenzen (1). Man könnte sie als Sinnbild der digitalen Weiten ansehen, in welchen es ebenfalls kein Ankommen gibt, sondern eher ein mögliches Abzweigen. Foucault bemerkte bereits 1967, wir seien nun „in ein Zeitalter der Gleichzeitigkeit eingetreten, dessen Ordnungsstruktur das räumliche ‚Netz’“ ist.(2) So ist auch die Erzählstruktur der Serien, in denen Isabella Til stets arbeitet, keine lineare, sondern eine parallel verlaufende. Das Narrativ zieht sich über die verschiedenen Bilder der, einer Versuchsanordnung gleichenden, Werkreihen hinweg. Trotz der nach außen drängender Dynamik fordern die Arbeiten zu Kontemplation und vergleichender Betrachtung von Sequenzen und Raumschichtungen auf, die simultan nebeneinander existieren.

Isabella Tils an den Rändern der klassischen Malerei angesiedelte Bilder sind Sinnbilder eines Zeitgeistes. Digitale Möglichkeiten treffen auf reales Erfahren, die Präsenz des Lichts wird neu verhandelt und die ungreifbaren Bildschichtungen, die eine Lokalisierung des Betrachters im Bildraum schier unmöglich machen, ermutigen uns zur eigenen Neuverortung in einer Welt, in der sich die Ebenen und Wahrnehmungsmuster verschieben. Ihre Bilder stellen Ideen eines befreiten Prozesses dar, in dem Denken und Handeln zugleich in offener Schwebe und in ständiger Reflexion sind, der aber in seinen Harmonien stets am Menschen orientiert bleibt.

Dr. Anne Simone Krüger, Hamburg

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(1) Der Begriff Kadenz entstammt der Harmonielehre und bezeichnet in der Musiktheorie eine Akkordfolge.

(2) Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2006. S. 317-329, S.317.
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Wanderung, 2020
Acrylic on archival fine art print, unique work, framed 165 x 230 cm

permanent on view at restaurant "Klee's"
K20/Kunstsammlung NRW, Grabbeplatz, Duesseldorf